Deutscher Bundestag Drucksache 20/4676 20. Wahlperiode
29.11.2022
Antrag der Fraktion der CDU/CSU
Mehr Tempo für Barrierefreiheit und einen inklusiven Sozialraum
Der Bundestag wolle beschließen:
I. Der Deutsche Bundestag stellt fest:
In einer Gesellschaft, an der alle Menschen teilhaben können, spielen ein öffentlich und privat für alle frei zugänglicher Raum (inklusiver Sozialraum) und Barrierefreiheit eine immer wichtigere Rolle: Menschen mit und ohne Behinderungen müssen gemeinschaftlich und selbstbestimmt miteinander leben können. Die Umgebung muss diese selbstbestimmte Teilhabe ermöglichen, so dass alle gestalteten Lebensbereiche zugänglich und nutzbar sind, mit anderen Worten: barrierefrei im Sinne von Artikel 9 und 19 der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK).
Barrierefreiheit nutzt dabei nicht nur Menschen mit Behinderungen, sondern ist auch gesamtgesellschaftlich wichtig, z.B. profitieren Eltern mit Kinderwagen und ältere Menschen. „Alle Lebensbereiche“ ist wortwörtlich zu verstehen: z.B. geht es um eine Wohnung, die ohne fremde Hilfe nutzbar ist, die Zugänglichkeit von Bussen und Bahnen, niedrige Regale in Geschäften, leicht zu öffnende Verpackungen, besser lesbare Produktinformationen, barrierefreie Behandlungstische in Arztpraxen, der Arbeitsplatz, der Bildungsbereich, Ehrenamt & Politik. Eine steigende Bedeutung kommt der Digitalisierung und – gerade aufgrund der Flutkatastrophe im Westen Deutschlands – dem barrierefreien Katastrophenschutz zu.
Unter den letzten Bundesregierungen wurden bereits viele Wegmarken für mehr Barrierefreiheit in unserem Land gesetzt. Dazu zählt z.B. die Erweiterung des Behindertengleichstellungsgesetzes (BGG), das allgemeine Vorgaben zur Barrierefreiheit und insbesondere zur Barrierefreiheit in den Bereichen Bau, Infrastruktur und der Verwendung der Gebärdensprache sowie der Leichten Sprache trifft. Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG), mit dem geregelt wurde, dass Produkte und Dienstleistungen ab 2025 europaweit barrierefrei hergestellt, vertrieben, angeboten oder erbracht werden müssen, insbesondere aus dem Bereich digitaler Dienstleistungen. Geregelt wurden auch Zutrittsrechte für Halter von Assistenzhunden im Privatbereich und Verbesserungen im Personenbeförderungsgesetz und Telekommunikationsgesetz. Vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales wurde zudem von 2018-2021 die „Initiative Sozialraum Inklusiv“ initiiert. Im Fokus der Initiative standen gute Beispiele und Handlungsempfehlungen für eine gelungene, inklusive Sozialraumgestaltung.
Die amtierende Regierungskoalition hat das in ihrem Koalitionsvertrag als Vorhaben verankerte Bundesprogramm Barrierefreiheit bislang nicht realisiert. Ein Jahr später kündigt die Bundesregierung nun an, die legislativen Maßnahmen und Vorabfassung – wird durch die lektorierte Version ersetzt Förderaktivitäten zur Verbesserung der Barrierefreiheit aller Ressorts in eine Bundesinitiative Barrierefreiheit einfließen lassen zu wollen. Doch es reicht nicht, sich nur mit vorhandenen Aktivitäten zu begnügen. Vielmehr gilt es, gezielter und strukturierter auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene den Sozialraum inklusiv zu gestalten und konkrete Maßnahmen auf den Weg zu bringen.
II. Daher fordert der Deutsche Bundestag die Bundesregierung im Rahmen der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel auf,
1. vorhandene Förderprogramme der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) wie das Programm „Altersgerecht Umbauen“ aufzustocken und neue aufzulegen, u.a. zur Unterstützung des Umbaus von nicht barrierefreien Arztpraxen und anderen Gesundheitseinrichtungen, für barrierefreie Produktentwicklung und für den barrierefreien Umbau privatwirtschaftlich betriebener öffentlich zugänglicher Gebäude und Einrichtungen wie Einzelhandelsgeschäften, Cafés und Restaurants,
2. mit einer Übergangsfrist von fünf Jahren die Schaffung von angemessenen Vorkehrungen nach Artikel 2 UN-BRK auch im Privatbereich verpflichtend im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) einzuführen, dies zu verbinden mit einer Überforderungsklausel, die bei rechtlicher und/oder tatsächlicher Unmöglichkeit (z.B. Denkmalschutz/wirtschaftliche Überforderung) keine Verpflichtung vorsieht und korrespondierend dazu in § 19 AGG zu regeln, dass die Versagung angemessener Vorkehrungen zur Herstellung von Barrierefreiheit eine Benachteiligung darstellt,
3. die Anzahl der noch nicht barrierefreien öffentlich zugänglichen Bauten des Bundes zu ermitteln, um auf dieser Grundlage möglichst innerhalb von fünf Jahren diese Gebäude umfassend barrierefrei zu gestalten,
4. im Personenbeförderungsgesetz ein Abweichen von der Umsetzungsfrist für eine vollständig barrierefreie Gestaltung des ÖPNV nur noch zu ermöglichen, wenn die Einhaltung der Frist mit einem unverhältnismäßigen Aufwand verbunden oder aus nachvollziehbar guten Gründen nicht notwendig ist, und die bloße Benennung von Ausnahmen in einem Nahverkehrsplan nicht mehr ausreichen zu lassen,
5. ein neues Förderprogramm der Deutschen Bahn aufzulegen, mit dem gezielt der Fernverkehr-Fuhrpark barrierefrei, zum Beispiel durch den Einbau fahrzeuggebundener Einstiegshilfen und eines barrierefreien Leit- und Warnsystems nach den Vorgaben des Zwei-Sinne-Prinzips, gestaltet wird, darüber hinaus zusätzliches Servicepersonal an allen Fernbahnhöfen und eine Erhöhung der Präsenzzeiten auf 6 bis 24 Uhr sowie an den großen Hauptbahnhöfen auch weiterhin einen 24-Stunden-Betrieb des Servicepersonals sicherzustellen,
6. eine beschleunigte Umsetzung des bereits 2017 vereinbarten Bahnsteighöhenkonzeptes mit konkreten zeitlichen Vorgaben voranzubringen, damit insbesondere Genehmigungsverfahren und Baumaßnahmen für Bahnsteigerhöhungen mit solchen entlang der anliegenden Strecke zeitlich synchronisiert werden, die Deutsche Bahn AG und private Bahnunternehmen insbesondere bei der Angleichung der Bahnsteighöhen auf die unterschiedlichen Einstiegshöhen der Züge besser miteinanVorabfassung – wird durch die lektorierte Version ersetzt der kooperieren und in diesem Rahmen der Einsatz sogenannter Kombibahnsteige (mit unterschiedlichen Höhen für unterschiedliche Zuggattungen an demselben Bahnsteig) geprüft wird,
7. gemeinsam mit den Ländern, Kommunen und Taxiverbänden einen Runden Tisch einzusetzen und dort praktische Lösungen für die Steigerung eines barrierefreien Taxiangebots zu entwickeln, um so insbesondere in ländlichen Gebieten die Integration in regionale ÖPNV-Angebote und Nutzbarkeit über entsprechende Apps zu ermöglichen,
8. die Förderung einer flächendeckenden barrierefreien Ladeinfrastruktur sicherzustellen, damit Barrierefreiheit auf Basis der DIN-Norm 18040-3 bei der Planung und Ausschreibung der Ladepunkte von Anfang an mitgedacht wird, was z.B. ausreichenden Bewegungsspielraum für Rollstuhlfahrer, die Zugänglichkeit und Nutzbarkeit der Bedienelemente für motorisch eingeschränkte Personen und die Verwendung kontrastreicher Schrift für sehbehinderte Menschen angeht,
9. sich bei den Ländern dafür einzusetzen, dass die Vorgaben der Landesbauordnungen auf Basis der bundesweiten Musterbauordnung zur Barrierefreiheit vereinheitlicht und die Vorgaben an die Barrierefreiheit in der Musterbauordnung angepasst werden,
10. sich dafür einzusetzen, dass bei der Verkehrs-, einer generationenübergreifenden Quartiers- und bei der Flächennutzungsplanung die Organisationen und Interessensvertretungen der mobilitäts-, sinnes-, lern- und psychisch beeinträchtigten Menschen von Verkehrsträgern und Kommunen wo immer möglich beteiligt werden,
11. Maßnahmen zu ergreifen, damit Beratungs-, Assistenz-, Pflege- und sonstige Unterstützungsangebote auch in der Praxis trägerübergreifend und aus einer Hand erbracht werden und entsprechende Anlaufstellen idealerweise auf kommunaler Ebene eingerichtet werden, die Unterstützungs- und Förderangebote kombinieren und bündeln, aber auch mit Beratungsangeboten z.B. der Ergänzenden Unabhängigen Teilhabeberatung (EUTB) und der Pflegestützpunkte und Angeboten der Freiwilligendienste und Engagementförderung kooperieren,
12. sich dafür einzusetzen, dass unter Federführung der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) und des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge gemeinsam mit Mitarbeiter/innen der Leistungsträger, aber auch der Beratungsangebote der EUTB und der Pflegestützpunkte, Konzepte für eine unbürokratische und niedrigschwellige Beantragung von Assistenzleistungen entwickelt werden,
13. neben der Auflage eines KfW-Förderprogramms zur Barrierefreiheit von Arztpraxen und Medizinischen Versorgungszentren auch zu prüfen, ob die KV-Strukturfondsmittel gezielt für den barrierefreien (Um-)bau barrierefreier Arztpraxen eingesetzt werden können,
14. im Rahmen der nächsten Entwicklungsstufen der neuen bundeseinheitlichen Richtlinie zur Barrierefreiheit von Arztpraxen insbesondere eine transparente Darstellung der Merkmale zur Barrierefreiheit sicherzustellen und hier auch die Bedarfe für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen zu berücksichtigen,
15. gemeinsam mit der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, dem Bundesverband der Deutschen Industrie und dem Zentralverband des Deutschen Handwerks Anstöße zu bundesweiten, aber auch regionalen Netzwerken für Barrierefreiheit zu geben, in denen kleine und große Unternehmen aus Industrie und Handwerk, Forscher und Entwickler, Menschen mit Behinderungen und ihre Verbände in barrierefreien Co-Working-Spaces zusammenwirken, um konkrete Ideen für barrierefreie Produkte im „Design für alle“ zu entwickeln, und ergänzend dazu aus dem Ausgleichsfonds Modellprojekte für Kreativlabore zur digitalen Barrierefreiheit als Gemeinschaftsprojekt zwischen Sozialträgern, Unternehmen, Menschen mit Behinderungen zu fördern,
16. ein bundesweites Förderprogramm zum Aufbau barrierefreier digitaler Infrastruktur (z.B. passender Endgeräte) und digitaler Kompetenzen in außerbetrieblichen Ausbildungsstätten wie Berufsförderungs- und Berufsbildungswerken, aber auch den Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM), aufzulegen,
17. die Bewusstseinsbildung für das Thema Barrierefreiheit insbesondere in der Architekten- und Ingenieursausbildung weiter zu stärken, damit Kenntnisse zur Entwicklung und Gestaltung von Produkten, zur Barrierefreiheit und zum „Design für Alle“ noch stärker vermittelt und in der Praxis genutzt werden, die Beratungs- und Fortbildungsangebote der Bundesarchitektenkammer bei Bauplanern und Architekten noch bekannter zu machen und sich für die Einrichtung eines eigenen Studienganges zur Barrierefreiheit in der Architektur einzusetzen,
18. beim Katastrophenschutz den Warnmix aus digitalen und analogen Medien barrierefrei anzupassen, damit die Warnmedien z.B. akustisch und visuell so ausgeprägt sind, dass gehörlose Menschen, taubblinde Menschen oder Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen eine Gefahrenlage schnellstmöglich wahrnehmen können, beispielsweise durch Vibration oder eindeutige Symbole, die das Ereignis benennen,
19. sich dafür einzusetzen, dass Menschen mit Behinderungen an allen politischen Prozessen uneingeschränkt teilhaben können, die Betroffenen z.B. in Beiräten, bei Planungsvorhaben oder „Task Forces“ vor Ort stärker eingebunden werden, und die Rahmenbedingungen für die Partizipation z.B. durch konsequentere Verwendung Leichter Sprache oder Gebärdensprache bei behördlichen Informationen verbessert werden,
20. die Regelung des § 78 Abs. 5 SGB IX, dass angemessene Aufwendungen für eine notwendige Unterstützung zur Ausübung eines Ehrenamts nur dann erstattet werden, soweit die Unterstützung nicht zumutbar unentgeltlich im Rahmen familiärer, freundschaftlicher, nachbarschaftlicher oder ähnlich persönlicher Beziehungen erbracht werden kann, zu überarbeiten, um Menschen mit Behinderungen zu motivieren, sich ehrenamtlich und politisch zu betätigen.
Berlin, den 29. November 2022
Friedrich Merz, Alexander Dobrindt und Fraktion