Tagesordnungspunkt 5:
Beratung des Antrags der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Solidarität im Rahmen der Tarifpluralität ermöglichen – Tarifeinheit nicht gesetzlich regeln
Drucksache 18/2875
Vizepräsidentin Petra Pau: Für die CDU/CSU-Fraktion hat nun der Kollege Wilfried Oellers das Wort.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Katja Mast [SPD])
Wilfried Oellers (CDU/CSU): Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir beraten heute den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Solidarität im Rahmen der Tarifpluralität ermöglichen – Tarifeinheit nicht gesetzlich regeln“. In meinen Augen ist der Titel des Antrags zwar etwas widersprüchlich, zeigt aber in Teilen die große Problematik des Themengebiets der Tarifeinheit auf.
Solidarität der Arbeitnehmer untereinander bei Ermöglichung von Tarifpluralität – bereits in diesem Teilausschnitt der Problematik, der lediglich die Interessen der Arbeitnehmerseite beleuchtet, stellt man bereits fest, wo die Schwierigkeit in diesem Themengebiet liegt. So verwundert es nicht, dass man beim Lesen der ersten Hälfte des Antrags den Eindruck hat: Nun müsste eigentlich die Tarifeinheit gefordert werden, da doch Solidarität gefordert wird.
(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eben nicht! Dann haben Sie einfach was falsch verstanden!)
Denn Solidarität innerhalb der Arbeitnehmerschaft bei Tarifpluralität in ein und demselben Betrieb ist nur ganz schwer zu erreichen.
Der Spannungsbogen des gesamten Themenkomplexes ist nach meiner Auffassung jedoch größer; neben den berechtigten Interessen der Arbeitnehmerseite müssen auch die Interessen der Unternehmer berücksichtigt werden. Der Spannungsbogen zieht sich von der verfassungsrechtlich garantierten Tarifautonomie bis hin zum hohen Gut des Betriebsfriedens.
(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das steht, glaube ich, nicht im Grundgesetz drin!)
Die Interessenlage der Arbeitnehmer ist, sich gemäß Artikel 9 Absatz 3 des Grundgesetzes im Rahmen der gewährten Tarifautonomie frei organisieren zu können und für die eigenen Ziele streiken zu dürfen. Daneben sollte den Arbeitnehmern allerdings auch die Solidarität untereinander wichtig sein. Diesem Solidaritätsgedanken steht es jedoch entgegen, sich mit einer kleinen Gruppe von Mitarbeitern eines Betriebes separat zu organisieren, die aufgrund der von ihr ausgeübten Tätigkeit im Falle eines Streiks ein hohes Druckpotenzial hat und dieses dazu nutzt, um für sich einen möglichst positiven Abschluss der Tarifverhandlungen zu erreichen. Die übrigen Arbeitnehmer im Betrieb, deren Tätigkeit ein weniger hohes Druckpotenzial hat, haben dagegen von Grund auf eine schlechtere Ausgangsposition.
Vizepräsidentin Petra Pau: Kollege Oellers, gestatten Sie eine Frage oder Bemerkung des Kollegen Ernst?
Wilfried Oellers (CDU/CSU): Ich würde zunächst gerne fortfahren. Vielleicht erübrigt sich das dann auch schon.
Das Interesse der Unternehmer liegt darin, geordnete Tarifverhältnisse zu haben, die es ermöglichen, Tarifverhandlungen in einem funktionierenden Tarifvertragssystem zu führen, das Rechtssicherheit und Rechtsklarheit bietet, und damit zu wissen, dass die Tarifverhandlungen für die Dauer der Vertragslaufzeit beendet sind. Das Interesse der Unternehmen am betrieblichen Frieden ist daher berechtigterweise sehr hoch. Zur Gewährleistung des betrieblichen Friedens gehört nach meiner Auffassung allerdings auch, dafür Sorge zu tragen, dass keine Konkurrenz zwischen mehreren Gewerkschaften besteht, die im selben Betrieb identische Berufsgruppen vertreten; denn das würde den betrieblichen Frieden stören.
Bis zur Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts im Jahre 2010 wurde diese besondere Situation, die sich aus den aufgezeigten Interessenlagen ergibt, durch die Rechtsprechung mit dem Grundsatz der Tarifeinheit geregelt. In Betrieben, die in den Geltungsbereich mehrerer sich überschneidender Tarifverträge fielen, fand nach dem Grundsatz der Tarifeinheit nur der Tarifvertrag Anwendung, der dem Betrieb räumlich, betrieblich, fachlich und personell am nächsten stand und deshalb den Eigenarten und Erfordernissen des Betriebes und der darin tätigen Arbeitnehmer am besten Rechnung trug.
Nachdem sich das Bundesarbeitsgericht im Jahre 2010 von diesem Grundsatz gelöst hat, besteht nun die besondere Situation, dass in einem Betrieb mehrere Tarifverträge gelten können. Darüber hinaus ist auch eine Konkurrenzsituation zwischen Gewerkschaften in einem Betrieb entstanden. Zum Beispiel beanspruchen GDL und EVG jeweils für sich, sowohl für die Lokführer als auch für das Zugpersonal und weitere Mitarbeiter, die bei ihnen Mitglied sind, verhandeln zu dürfen. Dass in diesem konkreten Fall die Bahn als Arbeitgeber geordnete Verhältnisse wünscht, ist nachvollziehbar. Den gleichen Wunsch hegen auch die Fluggesellschaften und andere betroffene Unternehmen.
Auch zeigt die Gründung von Minigewerkschaften im Bereich der Feuerwehrleute und der Containerkranführer, dass sich einzelne Berufsgruppen aus der Solidargemeinschaft verabschieden und die oben geschilderte besondere und wichtige Position ihrer Tätigkeit im Betrieb für sich ausnutzen. Ein solches Vorgehen darf im Sinne der Solidarität durchaus infrage gestellt werden.
Nun hat das Bundesarbeitsgericht seine Rechtsprechung im Jahre 2010 zur Tarifeinheit mit dem Verweis auf das Grundrecht der Tarifautonomie nach Artikel 9 Absatz 3 geändert. Anschließend wurde von der Arbeitgeberseite, aber auch von Gewerkschaften, allen voran vom DGB, der Wunsch geäußert, die Tarifeinheit gesetzlich zu regeln. Das Streikrecht spielt in diesem Zusammenhang eine besondere Rolle, da es verfassungsrechtlich garantiert ist und naturgemäß das schärfste Schwert einer Gewerkschaft ist. Dieses Recht muss ihr natürlich weiterhin zustehen; das steht außer Frage.
(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Theoretisch! Das muss auch praktisch so sein!)
Allerdings ist das Streikrecht im Hinblick auf die weiterentwickelte tarifrechtliche Situation und auch in jedem Einzelfall vor dem Hintergrund der Verhältnismäßigkeit zu beleuchten. Hierzu kann der Gesetzgeber zumindest gewisse Regeln aufstellen. Insoweit darf sicherlich nicht in das Grundrecht nach Artikel 9 Absatz 3 GG eingegriffen werden, aber bestimmte Ausgestaltungen sind möglich.
(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zum Beispiel?)
Dies erscheint mir geboten, um die Interessen der Allgemeinheit zu wahren; denn gerade am Beispiel der aktuellen Streiks im Verkehrsbereich wird deutlich, dass nicht nur die Interessen der Tarifvertragsparteien zu berücksichtigen sind. In der heutigen Zeit ist die Mobilität für jedermann ein wichtiges Gut. Die Menschen erwarten, dass die Verkehrsmittel zur Verfügung stehen, um ihr eigenes Leben organisieren und bewältigen zu können. Daher sind auch die Interessen der Allgemeinheit im Rahmen der Erarbeitung von Lösungen zu berücksichtigen.
(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dafür haben wir Gerichte!)
Wünschenswert wäre es, wenn die Tarifvertragsparteien diese Problematik im Rahmen der Tarifautonomie selber lösen und sich hierzu an den Verhandlungstisch setzen würden. Denn es gehört in meinen Augen auch zur Tarifautonomie und zum Tarifsystem, Probleme zu lösen. In der Vergangenheit ist dies immer in einem ausgewogenen Verhältnis gelungen, und das hat Deutschland Wohlstand gebracht. Es kommt nicht von ungefähr, dass Deutschland weltweit das Land mit den nahezu wenigsten Streiks ist. Wir werden darum auch beneidet.
(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum müssen wir das jetzt ändern?)
In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass Spartengewerkschaften auch schon zur Zeit des Grundsatzes der Tarifeinheit gemäß der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts existierten und die Interessen ihrer Mitglieder vertreten haben. Es kann auch keiner etwas dagegen haben, wenn verschiedene Gewerkschaften ihre Zuständigkeiten untereinander selber regeln und aufteilen – ich halte dies sogar für wünschenswert und geboten, da dies zur Umsetzung der Tarifautonomie gehört –,
(Beifall bei der CDU/CSU)
und zwar auf Grundlage von klaren und einverständlichen Regeln. Es ist daher mein Wunsch, dass die Problemstellung hinsichtlich der Tarifeinheit einvernehmlich im Sinne aller Beteiligten gesetzlich gelöst wird und dass die Tarifautonomie mit ihrem Streikrecht sowie das hohe Gut des Betriebsfriedens gewahrt werden.
Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU – Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe immer noch nicht verstanden, warum das gesetzlich gelöst werden muss!)
Vizepräsidentin Petra Pau: Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem Kollegen Klaus Ernst.
(Michaela Noll [CDU/CSU]: Er hat doch schon mal geredet!)
Klaus Ernst (DIE LINKE): Herr Kollege Oellers, gestatten Sie mir eine Bemerkung zu dem von Ihnen erwähnten Betriebsfrieden. Sie sind meines Wissens Anwalt für Arbeitsrecht.
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Er kennt sich aus!)
Es müsste Ihnen daher bekannt sein, dass der Begriff des Betriebsfriedens im Tarifvertragsrecht nicht zu finden ist. Vielmehr bezieht sich der Begriff des Betriebsfriedens eindeutig auf das Betriebsverfassungsrecht, nach dem ein Betriebsrat kein Streikrecht hat. Dort heißt es nämlich, dass Maßnahmen des Arbeitskampfes zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber unzulässig sind.
Jetzt in Bezug auf das Streikrecht permanent mit dem Begriff des Betriebsfriedens zu argumentieren, geht an der Logik der Sache vollkommen vorbei.
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Er hat nicht vom Streikrecht, sondern vom Tarifrecht gesprochen!)
Denn ein Streik ist gerade keine Zeit des Betriebsfriedens. Darum heißt es übrigens auch Arbeitskampf. Ich würde Ihnen diese Information gerne mitgeben und Sie bitten, diese zu berücksichtigen, wenn Sie über dieses Thema reden; denn sonst bringen wir das total durcheinander.
Das Streikrecht betrifft eigentlich nur eine Seite der tarifvertragschließenden Parteien. Die Arbeitgeber streiken ja nicht – das ergibt sich aus der Natur der Sache –; sie sperren vielleicht aus. Man könnte darüber nachdenken, das zu verbieten; aber das ist eine andere Sache. Wenn aber das Streikrecht einseitig eine Sache der Arbeitnehmer ist, dann ist es doch auch Sache der Arbeitnehmer, zu überlegen, wie sie ihre Streiks organisieren wollen. Ob sie das gemeinsam machen – was mir lieber wäre – oder ob sie es getrennt machen, das sei ihnen selber überlassen. Wie gesagt: Das hat nichts mit dem Betriebsfrieden zu tun. Eine Regelung, die den Betriebsfrieden schützt, würde sich eindeutig gegen das Streikrecht richten.
(Beifall der Abg. Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Vizepräsidentin Petra Pau: Möchten Sie erwidern, Kollege Oellers?
(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Ich glaube, der Herr Ernst hat dem Herrn Oellers nicht zugehört!)
Wilfried Oellers (CDU/CSU): Vielen Dank. – Herr Ernst, ich denke schon, dass beide Themenbereiche zusammen behandelt werden müssen, weil Betriebsfrieden und Streikrecht sich allein schon von der Begrifflichkeit her gegenüberstehen.
(Beate Müller-Gemmeke [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das genau nicht!)
Sie haben natürlich recht, wenn Sie feststellen, dass das Streikrecht als solches im Grundgesetz fest verankert ist. Allerdings hat es auch immer die Vereinbarung der Tarifvertragsparteien gegeben, die Friedenspflicht beizubehalten und den Betriebsfrieden hochzuhalten. Ich denke, dass beide Begriffe und beide Themenbereiche sehr wohl gegenübergestellt werden können und ich das hier nicht in unzulässiger Weise vermengt habe.
Vielen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU)