Heinsberger Zeitung, 15.10.2022
Text und Bild: Nicola Gottfroh
KREIS HEINSBERG Jede achte Kindertageseinrichtung in Deutschland ist mittlerweile eine Sprach-Kita. Doch die Förderung soll nun eingestellt werden. Was das für Kitas im Kreis Heinsberg bedeutet und warum sie das Aus hart trifft.
Sabine Köhnen und ihre Kollegin schneiden kleine Aufkleber auf und kleben sie auf eine Magnetwand, auf der der Kindergartentag in der Villa Regenbogen in Hilfarth vom Frühstück über den Morgenkreis bis hin zum Spielen im Außenbereich abgebildet ist. „Das brauchen wir für den ‚Tellimero-Stift’“, sagt Köhnen. Das ist ein interaktiver Lernstift zur Sprachförderung. Dafür nutzen sie ihn auch, zur Sprachförderung – aber das, was sie gerade erstellen, hat einen viel pragmatischeren Hintergrund. „Viele Kinder können kein Wort deutsch, wenn sie in den Kindergarten kommen. Dann steht eine fremde Erwachsene vor dem weinenden Kind und kann ihm nicht klar machen, dass die Mama bald wiederkommt“, erklärt sie.
Auf den Tellimero-Stift sprechen die Erzieher auf Deutsch Sätze wie „Wir essen jetzt zu Mittag“ und lassen diesen Satz von Eltern zum Beispiel auf albanisch, türkisch oder russisch übersetzen. „Sprache ist der Schlüssel zur Welt. Sprachkompetenz ist entscheidend für zukünftige Bildungschancen. Zudem ist Sprache der Schlüssel zu gelungener Integration“, sagt Sabine Köhnen.
An ihrem Arbeitsplatz in der Villa Regenbogen denkt sie sich aber auch viele Spiele zum Thema Sprache aus, setzt Ideen um, um eine bessere Kommunikation mit Eltern zu erreichen, die eine Zuwanderungsgeschichte haben und die nur wenig oder gar kein Deutsch sprechen, und erarbeitet Konzepte, um Kindern, die beim Eintritt in den Kindergarten kein einziges Wort der deutschen Sprache sprechen, den Einstieg in den Kitaalltag zu erleichtern. Aber das hilft auch Kindern, die keine Zuwanderungsgeschichte haben, die aber zu Hause zu wenig mit den Eltern kommunizieren, die keine Gute-Nacht-Geschichte hören, sondern eine Einschlaf-Folge schauen, und die deshalb sprachliche Defizite haben. „Bei uns hat beispielsweise jede Gruppe einen Lesekoffer, den die Kinder abwechselnd mit nach Hause nehmen“, sagt Köhnen.
Dass Sabine Köhnen sich während des quirligen und stressigen Kita-Alltags Zeit für all das nehmen kann, hängt mit der Besonderheit ihrer Stelle zusammen. Ein Großteil ihrer Arbeitszeit, rund 19 Stunden die Woche, wird über das Bundesprogramm Sprach-Kitas finanziert. In dieser Zeit arbeitet sie gemeinsam mit ihrer Kollegin Tabea Bihn als zusätzliche „Fachkraft Sprach-Kita“. Seit elf Jahren unterstützt der Bund Kitas mit erhöhtem Sprachförderbedarf mit dem Bundesprogramm, indem er ihnen zusätzliches Personal finanziert. Ende Dezember aber läuft die bundesweite Finanzierung für die Sprach-Kitas aus, so sieht es der Haushaltsentwurf der Bundesregierung vor.
Die Kindertageseinrichtungen in der Republik trifft diese Entscheidung hart, die Bundesländer sind in Aufruhr, weil das erfolgreiche Bundesprogramm nicht verstetigt werden soll. Dabei hatte sich die Ampelregierung noch im Koalitionsvertrag darauf geeinigt. Dass nun im Entwurf des Bundeshaushalts kein Geld mehr vorgesehen ist, ärgert nicht nur die betroffenen Akteure in den Kindertagesstätten, wie Sabine Köhnen, die das Projekt extrem erfolgreich nennt, sondern auch Politiker wie den Bundestagsabgeordneten Wilfried Oellers. „Wenn wir darüber reden, dass jedem Menschen in Deutschland dieselben Chancen eingeräumt werden sollen, so fängt das schon im Kita-Alter und bei der Sprache an. Denn die Sprache ist das Tor zur Bildung, und mit der Bildung wird der weitere Lebensweg angelegt.“
Zwar verwies die zuständige Bundesfamilienministerin Paus auf das Kita-Qualitätsgesetz, das den Ländern vier Milliarden Euro an die Hand geben soll. Doch hierbei gebe es mehrere Probleme, sagt Oellers: „Dieses Gesetz ermöglicht den Ländern die Finanzierung erst ab dem Sommer 2023. Die Sprachförderstellen bei den Kitas werden aber nur bis Ende 2022 durch die Förderprogramme finanziert“, kritisiert Oellers. „Es stellt sich die Frage, was die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die auf den Förderfachstellen sitzen, ein halbes Jahr lang ohne den bisherigen Lohn machen – wenn denn über das neue Gesetz die alten Sprachförderstellen überhaupt erhalten blieben. Vier Milliarden sind sicherlich eine Menge Geld, aber eine konkrete Zuweisung für die Fachstellen ist damit eben nicht verbunden.“
Auch Peter Wiese vom Jugendamt der Stadt Hückelhoven, der für die Fachberatung Kindertageseinrichtungen zuständig ist, bedauert diese Entwicklung. „Gerade dieses Sprachförderprogramm hat große Erfolge gezeigt. Man sieht, wie sich die Kinder verändern, wie sich ihnen neue Möglichkeiten eröffnen“, sagt er. Die Stadt Hückelhoven lege einen besonderen Wert auf die Sprachkompetenz von Kindern. Da das Bundesprogramm lediglich die Kosten zur Finanzierung des Personals deckt, hat die Stadt in den vergangenen Jahren fünfstellige Summen für die Anschaffung von Materialien zur Verfügung gestellt.
Dass die im Förderprogramm eingebundenen Fachkräfte in den Kitas in Trägerschaft der Stadt Hückelhoven weiter beschäftigt werden, stehe außer Frage, sagt Wiese. „Erzieher werden händeringend gesucht. Wir sind über jede Fachkraft in unseren Kindertagesstätten froh“, sagt er. „Doch mit dem Programm Sprachkita wurden neue Möglichkeiten geschaffen, durch die Stellen, die praktisch on top finanziert werden. Im normalen Kita-Alltag fehlt die Zeit, diese wichtige Arbeit zu machen“, sagt Peter Wiese.
Darum sei die Entscheidung, das Programm mitten im Kindergartenjahr einzustellen, in Zeiten der Folgen der Corona-Pandemie für die Bildung sowie zahlreiche geflüchtete Familien, inzwischen auch aus der Ukraine, aber auch aus vielen anderen Teilen der Erde, in keiner Weise nachvollziehbar. „Das ist für viele Kitas ein Qualitätsverlust. Zwar wird auf Sprache dennoch ein hoher Stellenwert gelegt, das ist auch im Kibiz so verankert, aber die Zeit für Projekte, die Zeit, individuell in Familien zu gehen, die entfällt“, sagt Wiese.
Zeit sei von enormer Bedeutung, pflichtet ihm auch Astrid Meuser, Leiterin der Villa Regenbogen, zu. „In den vergangenen Jahren haben sich die Lebenswelten der Kinder enorm verändert und auch das Lebensumfeld für Kinder wird schwieriger“, sagt sie und nennt unter anderem die Berufstätigkeit beider Elternteile oder die gestiegene Zahl von Scheidungen. „Viele Kinder haben Defizite in der Motorik oder im Sozialverhalten, um die sich die Erzieher im Kindergarten auch noch kümmerten – und das in Gruppen, die zum Teil überbelegt sind, weil zu wenig Kitaplätze zur Verfügung stehen“, so Meuser. „Die Zeit, die das Bundesprogramm allein für den Aspekt Sprache ermöglichte, ist unbezahlbar“, sagt sie.
Dem kann Nicole Dieck-Prüter nur zustimmen. Sie ist seit 2011 als Fachkraft in dieses Programm involviert, das schon damals in der Kita Traumland umgesetzt wurde. Sie ist auch eine Art Multiplikatorin für die Kitas im Stadtgebiet, die nicht am Bundesprogramm teilnehmen, aber durchaus von den Ideen und Ansätzen profitieren können, die die neuen Wege, sprachlich mit Kindern in Kontakt zu treten, auch übernehmen können.
Sie kann viele Beispiele erzählen, wie das Bundesprogramm Sprach-Kita die Chancen von Kindern in Hückelhoven in der Vergangenheit verbesserte. Zum Beispiel die eines Mädchens mit türkischen Wurzeln, das einen sehr kleinen Wortschatz hatte und kaum ausdrücken konnte, was es möchte. „Ich als Fachkraft hatte die Zeit, in die Familie zu gehen, mit den Eltern Lösungen zu erarbeiten.“ Dazu gehörte, dass die ältere Schwester dem Mädchen jeden Abend eine Geschichte in deutscher Sprache vorliest und sie in einen Sportverein geht. Am Ende konnte sie schulreif aus dem Kindergarten entlassen werden. „Ohne das Bundesprogramm und die Zeit wäre diese Entwicklung für das Mädchen womöglich untergegangen, denn dann wäre möglicherweise erst im Vorschulalter ihr Defizit aufgefallen – und in einem Jahr Vorschule lassen sich große Defizite nicht mehr aufholen“, sagt Dieck-Prüter.
Doch nicht nur Familien mit Migrationshintergrund profitieren von dem Programm, sondern jedes Kind. „Strukturen, die wir uns in den vergangenen zehn Jahren erarbeitet haben, können wir uns doch jetzt nicht wieder selbst kaputtmachen, weil am falschen Ende gespart wird“, sagt sie. Sie hofft, dass die Verantwortlichen in Berlin noch eine andere Lösung finden, um das Programm beizubehalten.