Aachener Zeitung vom 15.02.2021
Text: Marlon Gego
Foto: MHA/Harald Kroemer
Exklusiv AACHEN/DÜREN/HEINSBERG Die „offene Westgrenze“: Wie die Courage eines einzelnen Beamten dazu führte, dass die für die Grenzen in unserer Region zuständige Aachener Bundespolizei wieder handlungsfähig wurde. Ein Protokoll.
Peter Naumann wunderte sich schon länger darüber, dass niemand über die sich immer deutlicher abzeichnende Flüchtlingskrise berichtete, nicht in den Zeitungen, nicht im Fernsehen. 2010 waren knapp 50.000 Flüchtlinge nach Deutschland gekommen, 2012 waren es schon knapp 80.000. 2014 waren es am Ende mehr als 200.000.
Naumann sah vieler dieser Flüchtlinge, weil sie vor den Büros seiner Kollegen saßen und darauf warteten, vernommen zu werden. Und Naumann sah, dass die Probleme draußen an den Grenzen von Tag zu Tag größer wurden, weil er und seine Kollegen nicht mehr dazu kamen, diese Grenzen zwischen Monschau, Aachen, Gangelt und Wegberg zu überwachen, wie es eigentlich ihre Aufgabe gewesen wäre. Autodiebe, Drogenschmuggler, Einbrecher und später auch Geldautomatensprenger konnten mehr oder weniger unbehelligt die Grenzen passieren, in beide Richtungen. Stattdessen waren Naumann und seine Kollegen im Spätherbst 2014 nur noch damit beschäftigt, die Personalien von Einwanderern zu erfassen, Fingerabdrücke zu nehmen, Personalien abzugleichen, auf Dolmetscher zu warten und Anzeigen wegen illegaler Einreise zu schreiben.
Und die Medien wussten nichts davon? Naumann wunderte sich.
Er wunderte sich auch, dass keiner seiner Vorgesetzten, dass nicht einmal die Polizeigewerkschafter Alarm schlugen und auf die Überlastung der Bundespolizei und die schlechter werdende Sicherheitslage hinwiesen.
25. November 2014: Naumann kommt von einem weiteren frustrierenden Arbeitstag nach Hause und fährt seinen Computer hoch. Er schreibt an seine Zeitung, obwohl er dort niemanden persönlich kennt.
Unter seinem Klarnamen setzt Naumann einen regelrechten Hilferuf ab, er schildert seine Verzweiflung über die dramatische Lage in der Inspektion Aachen und an den Grenzen, die sperrangelweit offen stehen. Weil Naumann als Bundespolizist Beamter ist, riskierte er mit dieser Zuschrift seine Karriere, vielleicht sogar seine Existenz. Beamte dürfen nicht demonstrieren, sie dürfen ihren Unmut allenfalls intern gegenüber Vorgesetzten äußern.
Es dauert eine Weile, bis Peter Naumann Antwort aus unserer Redaktion erhält, aber dann wird ein Treffen für das neue Jahr vereinbart.
13. Januar 2015: Zu Hause in seiner Küche erzählt Naumann im Gespräch mit unserer Zeitung stundenlang vom Alltag in der Inspektion Aachen. Er erzählt von der absurden Mangelverwaltung, vom Beförderungsstau, von der Wut und von der Resignation vieler seiner Kollegen. Naumann, der seine Arbeit lange Zeit gern gemacht hat, zeichnet das Bild einer vergessenen und über alle Maßen frustrierten Behörde. Als das Gespräch endet, sagt Naumann, dass sein wirklicher Name nie herauskommen dürfe. Naumann heißt nicht Naumann, das Pseudonym soll ihn schützen.
23. Februar 2015: In unserer Zeitung erscheint ein fast ganzseitiger Artikel über die Situation bei der Aachener Bundespolizei. Die Recherchen ergaben, dass Naumann nicht übertrieben hatte, und vor allem, dass der Stellenplan in Aachen von 290 auf 260 Stellen reduziert werden sollte. Und dass zu diesem Zeitpunkt ohnehin nur 180 Bundespolizisten in Aachen arbeiten, die für 204 Kilometer Grenze, 44 Bahnhöfe und drei Flugplätze in der Städteregion Aachen und in den Kreisen Düren, Heinsberg und Euskirchen zuständig sind.
24. Februar 2015: In der Kongresshalle am Berliner Alexanderplatz beginnt der 17. Europäische Polizeikongress, hochrangige Vertreter fast aller europäischen Polizei- und Sicherheitsbehörden sind vor Ort. Das Hauptthema heißt „Herausforderungen und Grenzen der Sicherheit in Freiheit. Infrastruktur und Architektur europäischer Sicherheit“. Der tags zuvor in unserer Zeitung erschienene Artikel wird bei vielen informellen Gesprächen während des zweitägigen Kongresses zu einem der meistdiskutierten Themen. Ein Teilnehmer spricht davon, dass „der Bericht über den Zustand der Bundespolizei eingeschlagen hat wie eine Bombe“.
27. Februar 2015: Der stellvertretende Bundesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Jörg Radek, reist aus Berlin in die Inspektion Aachen, um sich über die Missstände zu informieren. „Die Situation bei der Inspektion Aachen ist sinnbildlich für die der gesamten Bundespolizei“, erklärt Radek anschließend. Er wolle sich für 2900 zusätzliche Polizeistellen bei der Bundespolizei mit ihren damals etwa 32.000 Polizisten einsetzen.
9. April 2015: Thomas de Maizière (CDU), als Bundesinnenminister Dienstherr der Bundespolizei, schickt seinen Parlamentarischen Staatssekretär Günter Krings (CDU) in die Inspektion Aachen, begleitet wird er von weiteren CDU-Bundestagsabgeordneten, die versprechen, sich in Berlin für die Inspektion Aachen einzusetzen. Mit dabei ist Wilfried Oellers, CDU-Abgeordneter aus Heinsberg.
4. September 2015: Um Bilder abgewiesener Flüchtlinge an den deutschen und österreichischen Grenzen zu vermeiden, öffnet Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) die Grenzen für Tausende Einwanderer. Spätestens jetzt hat die Flüchtlingskrise begonnen, die Naumann und seine Kollegen in Aachen so lange hatten kommen sehen. Aus der Inspektion Aachen werden trotz der Personalnot mehrere Beamte an die deutsch-österreichischen Grenzübergänge in Bayern abgeordnet.
13. November 2015: An fünf Orten in Paris begehen Islamisten Terroranschläge, 130 Menschen sterben, 683 werden verletzt. In den Stunden nach dem Attentat beschließt die Bundesregierung Grenzkontrollen an der belgisch-deutschen Grenze. Jeder Einreisende wird, wie vor dem Inkrafttreten des Schengen-Abkommens, kontrolliert. Weil die Aachener Bundespolizei dies mangels Personal nicht leisten kann, werden Beamte aus mehreren anderen Inspektionen vorübergehend nach Aachen geschickt. Innerhalb weniger Tage werden Hunderte Menschen festgenommen, die zur Fahndung ausgeschrieben waren, acht Schleuser verhaftet, Diebesgut im Wert von Hunderttausenden Euro sichergestellt. Die Zahl der Einbrüche in unserer Region geht in den ersten zwei Wochen der Grenzkontrollen um 63 Prozent im Vergleich zum selben Zeitraum des Vorjahres zurück, wie eine spätere statistische Auswertung ergibt.
15. März 2016: In unserer Zeitung erscheint ein Artikel, demzufolge die Inspektion Aachen weitere 35 Polizisten an andere Dienststellen abordnen muss, unter anderem an den Flughafen Köln/Bonn. In Aachen arbeiten in jenem Frühjahr kaum mehr 150 Bundespolizisten, zeitweise ist kein einziger Beamter mehr draußen an den Grenzen.
22. März 2016: Islamistische Selbstmordattentäter begehen am Brüsseler Flughafen und in der Brüsseler Innenstadt zwei Anschläge. 35 Menschen sterben. Wieder ordnet die Bundesregierung Grenzkontrollen an, die die Inspektion Aachen selbst mit Unterstützung anderer Inspektionen kaum mehr leisten kann. Wenige Tage später werden die Kontrollen wieder eingestellt.
Später stellt sich heraus, dass ein Flüchtling, der zeitweise in Aachen gelebt hatte, Routen für den IS ausgespäht hatte, auf dem die späteren Attentäter nach Europa kamen („Der Mann, mit dem der Terror nach Europa kam“, Ausgabe vom 22. September 2017).
4. April 2016: Wieder schickt der Bundesinnenminister seinen Staatssekretär Günter Krings nach Aachen, er spricht Klartext: „Die Situation der Inspektion Aachen ist schwierig, die Stellensituation problematisch.“ Ab Mai werden 29 zusätzliche Beamte nach Aachen geschickt, was allerdings nicht einmal dazu reicht, um die 35 nach Bayern und an verschiedene Flughäfen abgeordneten Polizisten zu ersetzen. Aber Krings sagt, dass das Problem im Ministerium nun endgültig ernst genommen werde.
Mit dabei ist wieder der Heinsberger CDU-Bundestagsabgeordnete Wilfried Oellers, der in den kommenden Wochen und Monaten in vielen verschiedenen Gesprächen auch im Innenministerium darauf dringen wird, die Bundespolizei, besonders die Inspektion Aachen, die auch für seinen Wahlkreis zuständig ist, zu stärken.
1. September 2016: Bundesinnenminister de Maizère gibt bekannt, dass die Bundespolizei, die zu diesem Zeitpunkt etwa 40.000 Mitarbeiter hat, darunter 32.000 Polizisten, bis 2020 mindestens 7000 zusätzliche Polizisten erhalten soll. Eine regelrechte Ausbildungsoffensive beginnt.
7. Juli 2017: Der G20-Gipfel in Hamburg beginnt. Die Sicherheitsbehörden erwarten Tausende gewaltbereite Linksextremisten aus ganz Europa. Schon im Vorfeld werden an der deutsch-belgischen Grenze auf der A44 Grenzkontrollen angeordnet. In den ersten Stunden der Kontrolle stellt die Aachener Bundespolizei unterstützt von Beamten anderer Inspektionen 435 illegale Einreisen von Menschen meist aus Afrika fest.
13. Oktober 2017: Der neue Leiter der Inspektion Aachen, Roland Görke, erklärt, dass im Moment nur 160 Bundespolizisten in Aachen Dienst tun. Er benutzt den Begriff „Mangelverwaltung“ zwar nicht, widerspricht ihm aber auch nicht. Gegenüber unserer Zeitung fordert der Heinsberger CDU-Abgeordnete Oellers eine Bundespolizei-Dienststelle im Kreis Heinsberg, damit auch dort regelmäßiger Grenzüberwachungen stattfinden können.
24. April 2018: Der deutsch-belgische Grenzübergang ist zum Haupteinfallstor für illegale Migration nach Deutschland geworden. NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) wendet sich in einem Brief an den neuen Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) und bittet ihn, mehr Personal nach Nordrhein-Westfalen, besonders nach Aachen zu schicken.
16. Juni 2018: Der stellvertretende GdP-Bundesvorsitzende Radek spricht gegenüber unserer Zeitung von der „offenen Westgrenze“ und fordert abermals mehr Personal für die Inspektion Aachen, die zu diesem Zeitpunkt etwa 170 Polizisten einsetzen kann. Weitere 30 sind abgeordnet, hauptsächlich zum Flughafen Köln/Bonn.
17. Juli 2018: Seehofers Vertrauter, der Parlamentarische Staatssekretär Stephan Mayer (CSU), kommt zum Krisengespräch nach Aachen. Ergebnis: Ab Herbst soll die Inspektion Aachen niemanden mehr abordnen müssen, alle Aachener Beamten sollen der Inspektion Aachen zur Verfügung stehen. Von den Polizeianwärtern, die 2016 ihre Ausbildung begannen, sollen 22 im darauffolgenden Jahr nach Aachen kommen.
19. Dezember 2018: GdP-Jörg Radek ist wieder zu Besuch bei der Inspektion Aachen und stellt fest, dass sich nach dem Krisengespräch mit Staatssekretär Mayer im Juli kaum etwas getan hat. Die Inspektion müsse anders als versprochen weiterhin Beamte an den Flughafen Köln/Bonn abordnen.
Etwa zur selben Zeit führt Wilfried Oellers in Berlin ein neuerliches Krisengespräch: Teilnehmer sind unter anderem Innenstaatssekretär Krings und die Staatssekretärin im Auswärtigen Amt Emily Haber.
11. April 2019: Im Kreis Heinsberg findet eine der höchst seltenen Grenzüberwachungen statt. Kurz nach dem Beginn des Einsatzes in Gangelt-Breberen nehmen Beamte der Inspektion Aachen zwei Schleuser aus Albanien und Kamerun fest, die neun illegale Migranten über die Grenze bringen wollen.
5. Mai 2019: Wilfried Oellers teilt mit, das Bundesinnenministerium habe einer Bundespolizei-Dienststelle für den Kreis Heinsberg nun zugestimmt. Die Suche für geeignete Räume beginnt, bis heute ist sie allerdings nicht abgeschlossen.
19. November 2019: Peter Naumann schickt eine E-Mail, in der er unter anderem schreibt: „Die Verstärkung macht sich schon bemerkbar. Dies spiegelt sich auch in den Aufgriffszahlen und den Fahndungstreffern wider. Nur in der großen Fläche im Raum Heinsberg sind wir leider immer noch unterpräsent.“
1. September 2020: Die Bundespolizei hat mittlerweile 51.315 Bedienstete, davon knapp 41.000 Polizisten. Bis zum Jahresende arbeiten in der Inspektion Aachen fast 250 Polizisten. Die Gewerkschaft der Polizei ist zuversichtlich, dass die Zahl der Polizeistellen in Aachen bis Ende 2021 auf etwa 280 steigt, zwischenzeitlich wurde der Stellenplan von 290 auf 301 Stellen erweitert. Doch das ist noch nicht das Ende: Die Stellenzahl soll nach Recherchen unserer Zeitung weiter angehoben werden und die Inspektion Aachen mit mehr als 300 Polizisten ausgestattet sein.
4. Februar 2021: Peter Naumann meldet sich per E-Mail. Er schreibt: „Wir erfahren derzeit tatsächlich einen kontinuierlichen Personalzuwachs. Im Frühjahr und im Herbst werden abermals junge Kollegen nach Aachen versetzt . Die Integration wird eine Herausforderung, aber die älteren Kollegen sind dahingehend guter Dinge. Die Beförderungssituation hat sich ebenfalls gebessert. Dies kommt nicht nur älteren, sondern auch jüngeren Kollegen zugute. Wenn nun in Zukunft auch noch der Fuhrpark dem zukünftigen Personalbestand angeglichen wird, wird Aachen eine schlagkräftige Bundespolizeiinspektion darstellen.“