Vor zehn Jahren, am 26. März 2009, trat in Deutschland die UN-Behindertenrechtskonvention in Kraft. Seitdem wurde vieles auf den Weg gebracht, damit Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Wie weit Deutschland mit der Inklusion gekommen ist, erläutert der Behindertenbeauftragte der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Wilfried Oellers.
In den letzten zehn Jahren hat sich einiges für Menschen mit Behinderung verbessert. Es hat ein Paradigmenwechsel stattgefunden, wir entwickeln uns fort vom Prinzip der Fürsorge hin zum Recht auf Selbstbestimmung und Partizipation. Inklusion bedeutet, dass sich Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen in allen Bereichen des Lebens begegnen und sich gegenseitig mit ihren Unterschiedlichkeiten, ihren Möglichkeiten und Kompetenzen wertschätzen. Besonders sichtbar ist das mit der Verabschiedung des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) in der letzten Legislaturperiode geworden, sicherlich eines der größten gesetzgeberischen Projekte der letzten 10 Jahre. Hier haben Gesetzgeber und die vielen Behindertenorganisationen zusammen an der Erarbeitung der sie betreffenden Gesetzesvorhaben aktiv gearbeitet. Auch wenn es im Vorfeld viel Kritik an dem Gesetz gab, wir haben mit dem BTHG ein modernes Leistungsrecht geschaffen, dass die Lebenssituation vieler Menschen mit Behinderungen deutlich verbessern wird. Es ist also eine solide Grundlage, an der die Fachverbände für Menschen mit Behinderungen einen großen Anteil haben. So können zum Beispiel Menschen mit Behinderungen, die erwerbstätig sind und Eingliederungshilfe beziehen, mehr von ihrem Einkommen und Vermögen behalten. Das Vermögen und Einkommen des Ehepartners wird ab 2020 anrechnungsfrei sein. Bundesweit entsteht ein Netzwerk unabhängiger Beratungsstellen, die EuTBs. Für die Beschäftigten in Werkstätten für behinderte Menschen wird das Arbeitsförderungsgeld verdoppelt. Das Budget für Arbeit ist eingeführt worden, damit wollen wir den Übergang auf den allgemeinen Arbeitsmarkt erleichtern. Leistungen zur Assistenz, besonders Elternassistenz sind gesetzlich geregelt worden. Die Anhörungsrechte der Schwerbehindertenvertretungen in der öffentlichen Verwaltung und in Unternehmen sind gestärkt worden. Im Schwerbehindertenausweis ist das neue Merkzeichen „Tb“ für „taubblind“ eingeführt worden. Dies sind einige der Verbesserungen für Menschen mit Behinderungen, die wir in der letzten Zeit eingebracht haben.
Dennoch gibt es noch Nachholbedarf. Auch wenn wir den Anspruch auf Selbstbestimmung und Partizipation gesetzlich verankert haben, ist noch viel Überzeugungsarbeit zu leisten. Es muss auch in der Praxis ein Umdenken stattfinden. Also heißt es, dass Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen sich auf Augenhöhe begegnen müssen, das bedeutet Sensibilisierungsarbeit auf beiden Seiten betreiben. Das BTHG kann für diesen sensiblen und sehr umfangreichen Regelungsbereich nur ein erster Aufschlag sein. Daher haben wir bewusst eine Evaluation vereinbart, die im Ergebnis eine ständige Evaluation sein wird. Wir werden in Zukunft das Gesetz dort anpassen, wo es weiterhin erforderlich ist. Die Arbeit ist mit dem BTHG also nicht beendet, eher das Gegenteil ist der Fall.
Damit Menschen mit einer Beeinträchtigung mehr auf dem ersten Arbeitsmarkt eine Beschäftigung finden, ist ebenfalls noch viel zu tun. Die Zahlen von arbeitslosen Menschen mit einer Beeinträchtigung ist zwar in den letzten Jahren erfreulich zurückgegangen. Allerdings besteht hier noch Luft nach oben. Jeder Arbeitslose, ob mit oder ohne Beeinträchtigung ist nun mal einer zu viel. Daher müssen die Unterstützungsangebote für Arbeitgeber, einen Arbeitsplatz barrierefrei einzurichten oder auf Lohnkostenzuschüsse (z.B. Budget für Arbeit oder Ausfallzahlungen) zurückzugreifen, besser genutzt werden. Über all die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten sollten die Arbeitgeber noch mal gezielt informiert werden. Zudem sollten sie im Bereich der Bürokratie mehr unterstützt werden, damit diese Bürokratie einer Einstellung eines Menschen mit einer Beeinträchtigung entgegensteht.
Hierzu müsste eine „Beratungsstelle für Arbeitgeber“ (ggf. bei der Bundesagentur für Arbeit) eingerichtet werden, die nicht nur unterstützt, sondern auch gezielt auf die ca. 40.000 Unternehmen zugeht, die zwar laut Gesetz verpflichtet sind, Menschen mit einer Beeinträchtigung einzustellen, dies aber nicht tun und dafür die Zahlung der Ausgleichsabgabe in Kauf nehmen.
Und noch etwas liegt mir am Herzen: Große Einrichtungen, Werkstätten für Menschen mit Behinderungen werden oft als Sonderwelten abgelehnt. Es darf aber nicht übersehen werden, dass auch Betroffene und deren Angehörige sich ein Leben außerhalb dieser Einrichtungen oder Werkstätten nicht vorstellen können oder wollen und deren Unterstützung weiterhin schätzen. Wir in der Union wollen daher Werkstätten für behinderte Menschen als eine Option neben der neuen Alternative mit dem Budget für Arbeit im Leben von Menschen mit Behinderungen beibehalten.
Für uns als CDU/CSU-Fraktion ist klar, dass Inklusion auch bedeutet, dass Menschen mit Behinderung wählen dürfen, und sich selbst auch zur Wahl stellen dürfen. Die Wahlrechtsausschlüsse im Bundeswahlgesetz und im Europawahlgesetz werden ersatzlos gestrichen. In den Gesetzen werden ergänzende Regelungen für die Assistenz bei Wahlhandlungen aufgenommen, damit sichergestellt wird, dass die Wahl selbstbestimmt und ohne fremde Einflüsse erfolgt. Zudem werden die entsprechenden Regelungen im Strafgesetzbuch ergänzt, damit klarer definiert ist, welche Assistenzhandlungen beim Wahlakt erlaubt sind und welche nicht.
Diese Änderungen werden ab dem 01.07.2019 gelten und somit nicht für die anstehende Europawahl. Das hätte ich lieber anders gesehen. Allerdings haben die Wahlhandlungen zur Europawahl mit der Kandidatenaufstellung bereits begonnen. Zudem ist es in der Kürze der Zeit nicht möglich die Listen der Wahlberechtigten entsprechend zu korrigieren und zu ergänzen. Eine rechtssichere Wahl könnte nicht gewährleistet werden. Darüber hinaus empfiehlt die Venedig-Kommission der EU (Kommission für Demokratie und Rechtsstaat), die Wahlgesetze ein Jahr vor einer Wahl nicht mehr zu ändern. Ich hoffe sehr, dass das Gesetz jetzt zügig im Parlament verabschiedet werden kann.
Bild: Vereinte Nationen, John Isaac